Wie ein Imagewechsel in starken ästhetischen Umbrüchen und kulturellem Austausch resultieren kann
von RanDieBam, 06.07.2021
1 – Einleitung
Wer von 2016 bis 2018 viele englischsprachige Videos auf YouTube geschaut hat, wird sie möglicherweise gesehen haben: Poppy. Ein Internetphänomen, das durch ihre ganz eigene Art von Videos berühmt im Web wurde. Jedoch ist ein starker Kontrast zu dem damaligen Stil in ihrer heutigen Kunst zu erkennen. Hier möchte ich darüber schreiben, wie sie nicht nur geschafft hat, einen Imagewechsel erfolgreich zu vollführen ohne sich selbst untreu zu werden, sondern auch gleichzeitig mit ihrer neuen Musik einen regen Austausch zwischen unterschiedlichen Subkulturen ermöglichen konnte.
2 – Der Anfang von Poppy
![Abb. 1: Poppy in einem ihrer früheren Videos (Screenshot Poppy 2016)](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjACB7xXfhgL3PIpHKb9mh2ZeR5AV5nuZM_leoT4WCKCsjCv2YL-e0vZQBs56duNEiCxB-lOtesO_gNRK6eUbsIkT-UzYkLtWF4L0f_v743P5bIAC6WVoDb0s_cMwgTeZ_NiMfC3Q8gqok/w523-h295/image.png) |
Abb. 1: Poppy in einem ihrer früheren Videos (Screenshot Poppy 2016) |
Als Moriah Pereira mit ihrem kreativen Partner Corey Mixter
(vgl. Alexander 2018) 2014 das Kunstprojekt Poppy ins Rollen gebracht hat (vgl.
Poppy 2014), hätte sie wohl nicht geahnt, dass sie heute dort stehen würde, wo
sie jetzt steht. Alles begann mit einer Kunstfigur namens Poppy, die von
Pereira selbst gespielt wurde in zahlreichen Videos auf YouTube. Viel bekannt
war nicht über die Dame aus dem Internet, außer eines: Sie heißt Poppy und sie
macht seltsame Dinge. Denn Pereira und Mixter - welcher öffentlich nur als
Titanic Sinclair bekannt war - haben ihr Bestes getan um jegliche vergangenen
Informationen über Pereira zu löschen und zu verbergen. Somit war das Projekt
von Anfang an unter einem mysteriösen Schleier verhüllt. Wer ist diese Frau und
warum tut sie das was sie tut? Schließlich befanden sich auf dem Kanal keine
einfachen normalen Vlogs oder ähnliche Inhalte, sondern skurrile Videos, in
denen Poppy z.B. 10 Minuten „I am Poppy“ sagt, Zuckerwatte isst ohne ein Wort
zu sagen oder eine Pflanze interviewt.
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgFlnXjlrc2HoT8CxJc8AU_rqHQoviV_WAk3A4b8msIubly-3tBBTd7-LpDvfB6HnSsgM1TKrjn5A3ZetaGckIXikCP0KW_ZS0inXqgzrNKxq3yrqKpaIY7s-wRVjfHea-z1pZ5XHvqG7U/w480-h270/image.png) |
Abb. 2: Poppy interviewt eine Pflanze. (Screenshot Poppy 2016) |
All dies mit einem Verhalten, welches wenig menschlich
wirkte und mit einer Inszenierung, die gewollt unangenehm auf den Zuschauer
wirken sollte. Poppy stand stets in hellen Räumen mit Wänden in weißer Farbe
oder anderen blassen (Pastell-) Farben. Sie sprach mit einer hohen Stimme,
welche tendenziell emotionslos klang. Ihre Haare waren hellblond gefärbt und
sie trug häufig Klamotten, welche mädchenhaft wirken sollten und sehr stark von
japanischer Kawaii Kultur inspiriert waren (vgl. Hey Beauti Magazine 2015). Diese
Szenen wurden gelegentlich von ungewöhnlich klingender Synthesizermusik
untermalt.
Dies dürfte für viele Menschen befremdlich klingen,
allerdings zeigt es ein wichtiges Merkmal der Internetkultur: An einem Ort, wo
viele Nischen zusammenkommen, wird das Sonderbare belohnt und hervorgehoben
(vgl. Allebach 2019). Im Internet kann sich jeder so zeigen, wie er es möchte
und jeder kann Inhalte beitragen. Es ermöglicht dadurch eine komplett neue Art
von Inhalten und Kommunikation. Dies bestätigt auch die Kulturtheorie von
McLuhan (1964: 18), dass das Medium selbst die Botschaft ist. Denn ohne das
Internet wäre solch eine Art von Inhalten schlichtweg nicht möglich gewesen. Die
klassischen Medien sind viel zu reguliert für eine Videoreihe wie diese. Im
Internet hat man als Künstler*in hingegen die Möglichkeit sich komplett zu
entfalten.
Jedoch war Poppy auch seit jeher eine Musikkünstlerin und
hat ihrem Namen entsprechend Popmusik gemacht. Diese Kombination aus Videos,
Musik und einer prägnanten Kunstfigur haben sie zu einem Internetphänomen
gemacht. Mit dieser Tatsache spielt sie auch selbst in vielen ihrer Videos mit
einem leichten Unterton von Gesellschaftskritik (vgl. Poppy 2016). Ihre Inhalte
erwiesen sich als wahre Singularitätsgüter, die die Gesellschaft als
einzigartig auserkoren hat, wodurch ihr Erfolg zustande kam. (vgl. Sommer 2017)
Der Algorithmus von YouTube schiebt diese Inhalte deshalb in den Vordergrund
und steigert das Wachstum nochmal. Das Besondere trennt sich vom Gewöhnlichen,
genau wie Reckwitz (2017: 7 und 16) es in seiner Kulturtheorie „Die
Gesellschaft der Singularitäten“ beschrieben hat. Poppy wird populär.
Ab einem gewissen Zeitpunkt bestand das Image dann und die
Leute hatte eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber Poppy und ihren Inhalten,
ihrer Musik. Sie hatte dennoch durch die Veröffentlichung ungewöhnlicher
Inhalte eine einzigartige Position bzgl. ihren zukünftigen Werken. Die
Zuschauerschaft wusste nie, was als nächstes kommen könnte.
3 – Poppy verändert sich, Analyse von „X“ und „Concrete“
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhHQX7A-FjnihBV6-xzxis5tJtoiJIR8oHzOmPXn8cUivtehoL3twlvfafoWJILyOTkvvhEibObPlCumR_NSHr3LzbTytsv_WI1p7DsrHCnVbVwn37c5yaeyarZRZCFeguOxbFnpbwtoYs/s16000/image.png) |
Abb. 3: Poppy mit ihrer neuen Band im Video zu
"X". (Screenshot Poppy 2018) |
Mit dem Musikvideo von „X“ kam 2018 dann allmählich der Imagewechsel von Poppy, die Zuschauer*innen waren sich dem bloß nicht bewusst. Sie waren es gewöhnt, befremdliche Inhalte von Poppy zu sehen, die eventuell auch schockierend wirken konnten. Dass es sich hierbei jedoch nicht um ein einmaliges Ereignis handeln sollte, bewies sie mit dem dazugehörigen Album „Am I A Girl?“ auf dem sich auch der Song „Play, Destroy“ befand. Ein Track, welcher Grimes als Gastsängerin hat und mit ähnlichen musikalischen Elementen spielen sollte. Um welche es sich hierbei handelt, möchte ich einmal veranschaulichen am Beispiel von „X“.
Um einmal die Kollektoren zu benennen: Es handelt sich hierbei um eine Studioaufnahme, die als unterhaltsames Klangerlebnis gesehen werden kann. Das Lied wurde zunächst am 31.10.2018 (vgl. Engelman) als Teil des oben erwähnten Albums veröffentlicht. Die Distributoren waren hierdurch sowohl physische Tonträger wie CD und Vinyl, als auch digitale Daten wie ein MP3-Download und Streaming. Es erschien unter dem Label von Diplo namens Mad Decent (vgl. Discog, o.J.). 5 Tage später erschien zudem ein Musikvideo auf YouTube (vgl. Poppy 2018). Die Abrufzahlen von YouTube und Spotify liegen momentan zusammen bei insgesamt 19 Millionen. Damit ist es einer ihrer meistgehörten Songs. Er wurde von Chris Greatti, Poppy, Titanic Sinclair und Zakk Cervini geschrieben. (vgl. Spotify, 2018) Auf die Kommunikatoren werde ich später eingehen, kommen wir erst einmal zu den Operatoren und somit zu dem eigentlichen Inhalt des Liedes.
Poppy, die zuvor lediglich für Bubblegum Pop bekannt war, kombiniert in diesem Lied 4 grobe Musikrichtungen in überwiegend abrupten Übergängen mit einigen Wiederholungen. Es gibt einen lauten Start mit einem modernen Metal-Teil. Tiefgestimmte (oder 7-saitige) Gitarren spielen Palmmutes auf der tiefen H-Saite mit kleinen Sekundenintervallen. Dies sind sehr typische Merkmale für modernen extremen Metal. Der Klang der Gitarren ist geprägt von Hochmitten und stark im Vordergrund, sie sind außerdem stark verzerrt. Eine direkte Referenz zum eigenen Poppy Charakter fällt mit einer humoristischen Zeile in ihrer üblichen hohen Stimme „Ooh, heavy!“, womit das Lied direkt darauf anspielt, dass dies ein starker Kontrast zu den üblichen Poppy-Inhalten ist.
Die Spannung ist groß und binnen 11 Sekunden kommt der erste Wechsel zu etwas ganz anderem: akustischem Pop, der von 60er-Jahre Pop inspiriert ist. Der Text geht auch auf Themen der damaligen Kultur ein – Hippies und Weltfrieden.
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiWWX6d1LpITdbNtJQH4do0SITI9PxaMB-RvvHTpezE0aKBdK9OzInyWjJ-rS70aeZb8xcqDFVgV7Dk_0_5haig9qq7RSLeY0x-knh8AjjvQnVUODvuxLlfafyzF8mfEY5jYWth37xxzDM/w475-h261/image.png) |
Abb. 4: Poppy während dem 60er-Pop-Abschnitt von
"X". Die Hippie-Anspielung kommt hier besonders zum Vorschein.
(Screenshot Poppy 2018) |
Die Gesangsmelodie ist sehr einprägsam durch ein sich wiederholendes Motiv an Noten und durch die Tonart E-Dur auch friedlich anmutend. Der Hintergrundgesang ist harmonisch nach moderner Machart perfekt gestimmt und ein Pfeifen kommt auch noch dazu. Dieses ist jedoch leicht schief und vermittelt, dass vielleicht doch nicht alles so bleibt, wie es scheint. Die Kick Drum, die vereinzelt spielt, klingt sehr räumlich, passend zu dem Stil. Bei Sekunde 36 kehrt der Metal-Stil dann zurück mit einem richtigen Groove und Dissonanzen, die einen starken Kontrast erzeugen zum vorherigen Teil. Die Gesangsmelodie ist ebenfalls dissonanter und es kommen Stimmen dazu, die nicht nur stark verzerrt wurden durch eine Art Overdrive-Effekt, sondern auch noch einen Stimmverzerrer haben und schockierend bzw. befremdlich wirken sollen. Hier hört man auch erstmals richtig die Drums, welche auf Direktsignalen basieren und trocken und stark komprimiert sind mit einer gleichbleibenden Lautstärke, was sehr typisch für moderne Metal-Produktionen ist. Ab Minute 1 gibt es für 10 Sekunden den dritten Stil, eine düstere Unterart von Hip-Hop.
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhJWBBeAq9epKtHxSMgVT0L2ll28UxZ9c-Tna1P46VSby4Z6xi2GRVajTG0dYCAL8BT8fTzeefn44_at0QkWK7Wk2biYT-Tldtqk2OpRTl2RLKXzVOr64Vm7LQ0qOrgL4216HgsWeb9EhE/s16000/image.png) |
Abb. 5: Poppy während dem düsteren Hip-Hop-Abschnitt von "X". Das Video untermalt
besonders die Stimmung. (Screenshot Poppy 2018) |
Dieser ist vor allem geprägt von elektronischen Drum Samples bzw. Drum Machines und einem tiefen verzerrten 808-Bass, über die Poppy bizarr wirkende Wörter spricht. Dabei wird sie gedoppelt von einem männlichen Sänger, der ebenfalls spricht, jedoch mit Untertongesang. Mit einem intensiven Schrei – zuvor ungehört bei Poppy – geht es wieder in einen kurzen Metal-Teil mit einem Gitarrensolo. Das ist ein sehr typisches Element des Genres, welches hier zur Verdeutlichung herangezogen wurde. Nach 10 Sekunden ist sie wieder im 60er-Pop-Teil der 30 Sekunden andauert. Danach gibt es zum ersten Mal einen richtigen Übergang zwischen den Genres, auch wenn er durch den Staccato-Rhythmus mit unüblichen Abständen nicht sehr flüssig ist, bevor es wieder in den Metal-Teil mit Gesang geht. Ab Minute 2:05 werden die minimalistischen Instrumente vom Hip-Hop-Teil gemischt mit den Gesangsparts vom Metal-Teil. Dadurch rückt der Gesang sehr stark in Vordergrund, insbesondere die verzerrten Stimmen. Auch dies hält nicht lange an und nach 10 Sekunden kommt das letzte Genre zum Vorschein.
Es handelt sich um einen Rock-Teil mit Pop-Punk Tendenz. Ein E-Bass spielt Grundtöne und klingt sehr rund und voll im Bassbereich. Die E-Gitarren sind gedoppelt mit Akustikgitarren und haben einen Marshall-ähnlichen Klang, welcher nicht so stark verzerrt ist. Dadurch kommen die Akkorde die gespielt werden transparenter zum Vorschein. Das Schlagzeug hat eine ähnliche Durchschlagskraft wie im Metal-Teil, spielt jedoch auch die Ride im Gegensatz zur Hi-Hat wie vorher. Die Gesangmelodie ist eine ähnliche wie im 60er-Pop-Teil, wirkt jedoch anders durch das angehobene Tempo.
Allgemein lässt sich auch über das Lied sagen, dass die Tempowechsel stark zu dem Kontrast zwischen den einzelnen Teilen beitragen. Der 60er-Pop-Teil wirkt mit 115 BPM in Half Time am langsamsten, während der Metal- und Hip-Hop-Teil 85 BPM haben. Allerdings ist auch zwischen denen ein Kontrast, da der Metal-Teil eher in Doubletime und mit kürzeren Notenwerten spielt und somit schneller wirkt. Der Rock-Teil zum Schluss wirkt mit 165 BPM deutlich schneller als der 60er-Pop-Abschnitt. Er endet mit einem Slowdown und einer Akkordfolge, welche natürlich zur Tonika E-Dur zurückkehrt, wodurch es nach einem sehr harmonischen Ende klingt. Dieser Abschnitt ist mit Abstand der radiotauglichste des ganzen Liedes.
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiOOmZiqqT8zC8hcNl8hlyH6oA_9jVagiZCsVI9_Ardbx9HIGnki9R4LvhkvAo76Qr4gejeBfoOQaAy75jkn2JctDbtZ0jFYbGpZNwPp12cFhX-2tWZhFRIfRkuQRIWVwruSnJqbnT7Tvs/s16000/image.png) |
Abb. 6: Der finale Rockabschnitt des Liedes zeigt
Poppy mit der Horror-inspirierten Band von dem Metal-Abschnitt in einer neuen Szenerie.
(Screenshot Poppy 2018) |
Das Fundament des Liedes ist die große Disparität zwischen den einzelnen Songabschnitten und Stilen. Auch der Songtext geht auf diese Tatsache ein mit Zeilen wie „I wanna love everyone [/] Empty every bullet out of every gun“, die gegen Zeilen wie „Get me, get me bloody, please get me bloody“ stehen (Genius, o.J.). Das Lied erzeugt einen ständigen Kontrast durch sehr unterschiedliche Genres, die hintereinander genutzt werden und einen ständigen Wechsel zwischen Konsonanz und Dissonanz. Die größte Gemeinsamkeit ist der Einsatz von Gitarren, jedoch mit unterschiedlichen Intensitäten, wodurch beim Hörer eine wahre Reizüberflutung ausgelöst wird, die keinen Spielraum für Gewöhnung bietet. Es wirkt auf die meisten Hörer*innen beim ersten Mal befremdlich.
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj9UTMrM2UUa734Bj2qjWhEh-uJ5gPLll0_psiFeHwKToKlSeOLsJpuJC97cbcp2Zac7B4hTC8lAdbqKbIad9oeqhLEzOC_hFzjG1pLuvtOTde50Q-_R0cI6ZNdNqTS2pdUkK_lAbTqRsQ/s16000/image.png) |
Abb. 7: Der plakative Bildausschnitt während der
Stelle, in der Poppy "please give me bloody" sagt. (Screenshot Poppy
2018) |
In den folgenden Jahren bewegt sich Poppy immer mehr in diese Richtung. 2019 veröffentlicht sie einen Song mit Fever 333 namens „Scary Mask“, welcher ähnliche Genresprünge vorweisen kann. Mit ihrem Album „I Disagree“ aus 2020 ist der Übergang vollendet und Poppy greift in fast jedem ihrer Songs Gitarren-, Rock- oder Metal-Elemente auf. Die Genresprünge sind weniger abrupt, wenn auch gezielt gewählt.
Ein Song des Albums, „Concrete“, hat einen ähnlichen Kontrast zu „X“. Teils gibt es modernen Metal mit Leadgitarren, die einen sehr spitzen und trockenen Klang haben. Ein Anfang, der viel Spannung erzeugt, jedoch in einem Refrain-ähnlichen Teil mündet, welcher eine große Ähnlichkeit zu Kawaii Metal im Stil der Band Babymetal hat. Energetische Drums und verzerrte Gitarren treffen auf einen klaren hohen Gesang in der Dur-Skala, welcher mit Texten wie „chewy, chewy, yummy, yummy, yummy“ überraschend daherkommt (vgl. Genius, o.J.). Dann kommt plötzlich ein Breakdown in brutaler Deathcore-Manier. Dieser wird gefolgt von einem sanften Übergang zu einem 60er-Pop-Abschnitt, welcher klare Inspiration vom Album „Pet Sounds“ der Beach Boys bezieht mit einem Cembalo, das ähnlich die Viertel betont mit Akkorden wie in einem „God Only Knows“ oder „Wouldn’t It Be Nice“. Der Bass wird auch hier mit einem Plektrum gespielt, während er von z.B. einem Schaumstoffstück in der Brücke gedämpft wird, wodurch ein sehr charakteristischer Klang entsteht. Später gibt es sogar noch Songübergänge, die mit ihren harmonierenden mittenlastigen Leadgitarren und aufsteigenden Skalenläufen stark an Queen erinnern.
Durch diese Vermischung von Genres führt Poppy verschiedene Hörergruppen zusammen und sorgt für einen Austausch zwischen verschiedenen Subkulturen, besonders der Internetgefolgschaft, die sie sich aufgebaut hat und der Rock- bzw. Metal-Gemeinschaft. Sie hat die Gesellschaft durch ein als einzigartig angesehenes Produkt bereichert. Mit ihrem 2020er-Album ist sie sogar zu dem Metal-Label Sumerian Records gewechselt (vgl. Redrup 2019). Kurz zuvor hat sie offiziell die Zusammenarbeit mit ihrem kreativen Partner Titanic Sinclair beendet aufgrund von psychischer Manipulation seinerseits (vgl. Childers 2019). Das Album spielt häufig autobiografisch im Text auf diese Situation an, eine Trennung vom Alten und ein darauffolgender Neuaufbau. Es existiert eine starke Verbindung zwischen der Musik und dem persönlichen Kontext der Sängerin. Sie bedient sich mit verzerrten Gitarren absichtlich an den semiotischen Symbolen einer rebellischen Subkultur (Metal) um ihren eigenen Sinneswandel in musikalischer und visueller Ästhetik zu vermitteln.
Die Semiotik von ihrem Albumcover ist sehr deutlich. Darauf sieht man Poppys Gesicht in schwarz-weiß fotografiert mit einem Overlay, das stark nach einer Gesichtsbemalung und Schriftzügen aussieht, wie sie im Black Metal üblich waren mit einem dazu passenden Halsband, das mit Stacheln besetzt ist. Die Symbolik ist absichtlich plakativ und soll die Betrachter*innen provozieren. Interessanterweise wird in der Musik selbst aber nicht mit Black Metal-Elementen gespielt. Es ist auch fragwürdig, wie groß ihr eigener kreativer Anteil wirklich war, da z.B. „I Disagree“ auch von Titanic Sinclair, Chris Greatti und Zakk Cervini mitgeschrieben wurde.
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh1V4ZyoS32vUWLvkTPEUA_ls__HnLaOtTsw0ioQuqRFQnkMEI6BysClIzibvRv3LVbVLyLRdoBMfHIcEL2CFnC0NMWtZ948QnIw6t_ZNtI1qqZV1Tem3OCiVI-b9QNppTOKxbiDJeqm94/) |
Abb. 8: Das Albumcover von I Disagree. (Poppy 2020) |
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhJwhhvNFG5Izcfoz2DJfXOhpDyiO82zPc0J-irCeUXjGAvB3HQstJINOrxX7gK781wFx2e6sxVpJZII14QNyyDoGYHzlPDRUUKmhbYmXPUl-Pwxn8mo3AcoasBqh_KH512ZajmrD3INdE/) |
Abb. 9: Zum Vergleich das Albumcover einer norwegischen
Black Metal Band aus den 90ern. (Darkthrone 1994) |
Ihr neues Produkt wird als besonders angesehen und ist mehr als je zuvor eine Singularität. Denn im Gegensatz zu ihren vorherigen Werken wirkt dieses deutlich authentischer (vgl. Reckwitz 2017: 10) (vgl. Build Series 2019: Minute 2:17). Auch wenn die Frage bleibt, inwiefern der Gitarrist Greatti künstlerisch zu dem Endprodukt beigetragen hat. Es wird hervorgehoben und ist „anders“ als die gewöhnliche Musik. Poppy bezeichnet es als „Post-Genre“ (vgl. Ewens 2020). All dies spricht Reckwitz‘ Theorie (2017) zu. Rein musikalisch hätte dieser Wechsel vielen Künstler*innen einen Popularitätsabstieg erbracht, hier allerdings wurde er sogar begrüßt. Poppy hat es nämlich geschafft, den unheimlichen Teil ihres Charakters in dieser Musik stärker zu verkörpern. Das Ungewöhnliche war von den Fans gewöhnt und wurde somit angenommen.
Der ständige ästhetische Wandel ihrer Musik macht Poppy zu einer Künstlerin der Postmoderne. Wie Mischke in seiner Theorie „Pluralismus der ästhetischen Erfahrungen“ schreibt (1992: 2), wird es zu einem Spiel, mehrere Stile zu durchleben und zu verkörpern. In Poppys Fall jedoch nicht als reine Zuhörerin, sondern auch als Künstlerin. Die Möglichkeiten sind grenzenlos und jede neue Ästhetik ist wie eine frische Farbe. Natürlich spielt dies auch dem Marketing zu, da die Künstlerin immer anders bleibt und damit potenziell auch die Möglichkeit hat, immer aktuell zu bleiben, wodurch sie nicht stagniert. Ob sie dies auch tun wird, steht in den Sternen. Tatsache ist auf jeden Fall, dass ohne die heutigen Möglichkeiten einer technischen Produktion nicht so klare Ästhetikwechsel möglich wären. Die Studioaufnahme definiert im Gegensatz zu einer Liveaufnahme einer Band ganz fest den Klang und die Ästhetik. So schreibt es auch Wicke in seiner Ästhetiktheorie „Ästhetische Dimensionen technisch produzierter Klanggestalten“ (2011). Jeder Klangeinfluss ist spezifisch gewählt und gewollt. Ihre Bewegung von Bubblegum Pop zu Post-Genre mit viel Rock/Metal-Einflüssen wurde also extra eingeleitet und konstruiert.
Jedoch kann so eine Bewegung auch nicht ganz ohne Widerstand bleiben. Stichwort Kommunikatoren: Wie bereits erwähnt, wurden durch den Genresprung Subkulturen zusammengebracht, die normalerweise nicht aneinandergeraten sind. Online-Newsseiten und Magazine, die überwiegend über Rock/Metal-Künstler*innen geschrieben haben, haben jetzt auch über Poppy geschrieben und die Presse war von ihrem Wechsel sowohl verwirrt als auch angetan. Jedoch lesen diese Medien auch einige Leute, die weniger offen gegenüber fremden Einflüssen in dem Genre sind, das sie üblicherweise hören (vgl. Alternative Press Magazine 2018). Dies lässt sich anhand von Schulzes „Theorie der Szene“ (1992: 459-465) auch gut erklären. Aus Konzerten und der Erlebnisgesellschaft entwickeln sich Subkulturen, die den Lebensstil ihrer Anhänger definieren. Es gibt je nach Subkultur mehr oder weniger klare Abgrenzungen zu anderen Richtungen, neue Teilnehmer werden genau betrachtet und beurteilt. Wenn jetzt die eigene Gruppe „infiltriert“ wird von einer Person aus der Internet-Popkultur mit anderen Stilen und Gewohnheiten, wird dies natürlich von einigen abgelehnt. Es wird als unpassend angesehen. Dass Poppy oftmals mit dem Subgenre Nu Metal assoziiert wird, dürfte hier nicht helfen. Dieses war in den 2000ern nämlich das meistkritisierte Subgenre der alteingesessenen Metal-Hörer*innen und -Künstler*innen (vgl. Michelle 2017).
4 – Schluss
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgWhvOWZNPpgYRLTddxjYM2aD_i0po4-Rw50Uf5xRbXZnHLLumxhTD5ixWTwZAujBnUueI9Syrc0-xppkqY4XKJS0wLovVhGLmK0UYS9I5DUWZd-SmPPPFfGZ_Or6ef6rz7i78M_24AI6U/s16000/image.png) |
Abb. 10: Poppy mit einem düstereren neuen Look im Musikvideo von "I Disagree" (Screenshot Poppy 2019) |
Poppy ist eine spannende Künstlerin, die aus der Internetkultur geboren ist und sich mit ihrer Musik ab 2018 neu erfunden hat. Besonders das 2020er Album zeigt, welche interessanten Resultate entstehen können, wenn man mehrere ästhetische und kulturelle Inspirationen in einem Produkt vermischt und mit welch einer Präzision dies eigentlich umsetzbar ist. Dies noch mit einer Marketingstrategie und einem Imagewechsel zu verknüpfen, zeugt von dem Können des gesamten Teams hinter Poppy. Allerdings bleibt auch aus, ob sie dieses Niveau auch in den zukünftigen Veröffentlichungen aufrechthalten kann oder ob man hier schon die Blütezeit ihres neuen Stils miterlebt hat. Der Metal-Subkultur kann es nicht schaden, eine neue Facette dazuzugewinnen und man darf gespannt bleiben, welche Richtung Poppy nach ihrem noch extremeren Release „EAT (NXT Soundtrack)“ als nächstes einschlägt. Genau wissen tut man das Poppy schließlich nie so recht.
Quellenverzeichnis
Alexander, Julia (2018) Poppy’s legal-battle woes are years in the making (update). Everything you need to know about the lawsuit enveloping Poppy, Mars Argo and Titanic Sinclair. In: Polygon.
Hey Beauti Magazine (2015) Official interview with singer That POPPY.
Allebach, Nathan (2019) A Brief History of Internet Culture and How Everything Became Absurd. In: Medium.
McLuhan, Marshall (1964) Understanding Media. The Medium Is The Massage [sic]. McGraw-Hill
Poppy (2016) I love the internet so much.
Sommer, Stefan (2017) Netzphänomen Poppy. Diese YouTuberin beschert uns Albträume. In: BR Puls.
Reckwitz, Andreas (2017) Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp
Engelman, Nicole (2018) Poppy's 'Am I A Girl?' Album Is Here, Featuring Grimes Collaboration 'Play Destroy' In: Billboard.
Discog (o.J.) Poppy – Am I A Girl?
Poppy (2018) Poppy – X Official Music Video. Online einsehbar unter:
Spotify (2018) Poppy – X (Rechtsklick: Mitwirkende). Online einsehbar unter:
Genius, (o.J.) Poppy – X Lyrics. Online einsehbar unter:
Genius, (o.J.) Poppy – Concrete Lyrics. Online einsehbar unter:
Redrup, Zach (2019) “NEWS: Poppy signs with Sumerian Records; drops new song, ‘Concrete’!” In: Deadpress. Online einsehbar unter:
Childers, Chad (2019) Poppy Splits with Creative Partner Titanic Sinclair. In: Loudwire. Online einsehbar unter:
Build Series (2019) Poppy Is the New Face Of Nu-Metal In 2019. Online einsehbar unter:
Ewens, Hannah (2020) Meet Poppy: The Face Of A Post-Genre World In: Kerrang.
Mischke, Jörg (1992) Der Pluralismus der ästhetischen Erfahrungen. Berlin: Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität
Wicke, Peter (2011) Ästhetische Dimensionen technisch produzierter Klanggestalten. Münster: Thomas Phleps und Wieland Reich
Alternative Press Magazine (2018) POPPY MAY BE THE FUTURE OF HEAVY METAL WITH NEW SONG “PLAY DESTROY”.
Schulze, G. (1992) Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main
Michelle, Blake (2017) Crossfader’s Nu Metal Primer In: XFDR Mag. Online einsehbar unter:
Abbildungsquellen:
Poppy (2016) „Happy Birthday to Poppy” (Screenshot), zuletzt abgerufen am: 02.07.2021
Poppy (2016) „A Plant“ (Screenshot), zuletzt abgerufen am: 02.07.2021
Poppy (2018) „Poppy – X (Official Music Video)“ (Screenshot), zuletzt abgerufen am: 02.07.2021
Poppy (2020) „I Disagree“ Album Cover, zuletzt abgerufen am: 02.07.2021
Darkthrone (1994) „Transilvanian Hunger“ Album Cover, zuletzt abgerufen am: 02.07.2021
Poppy (2019) „Poppy – I Disagree (Official Music Video)” (Screenshot), zuletzt abgerufen am: 02.07.2021
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